Kaputt
Die Sache mit dem ganz oben Wohnen ist ja, dass man, wenn das Dach kaputt ist, die Scheiße sofort auf den Kopf kriegt. Das ist jetzt nicht so die riesengroße Weisheit, aber ihr könnt das vielleicht trotzdem irgendwo speichern. Nur für den Fall, dass ihr irgendwann mal ganz oben in einem okayen Altbau wohnt und ihr wegen Leben und Zufall und Kindern etc. plötzlich die Wohnung gekauft habt. Endlich ganz oben, werdet Ihr dann vielleicht denken, weit weg vom Straßenlärm und nicht wie früher so sandwichmäßig im zweiten OG von vieren (was zwar wegen Isolierung etc. knorke ist aber sonst eher so mitteltoll). Und dann wundert Ihr Euch eines Abends in Eurem niedrigzinsfinanzierten Gefühlspenthouse, dass der Regen von innen die Tapete runterläuft. Dies ist der Moment, in dem Ihr Euch meine Stimme vorstellen dürft, die Euch ein feuchtes "I-told-you-so" ins Ohr haucht.
Bei mir war es letzte Woche soweit und ich hab jetzt jede Menge Bullshitbingodaten über Innenraumtrocknung, Gebäudeversicherungspolicen und die fein abgestuften Inkompetenzen verschiedener Handwerksprofessionen im Kopf. Wenn’s Euch nämlich in die Bude regnet, habt ihr bald viele lustige Gespräche mit Dachdeckern, Trocknungsfirmen, Stuckateuren, Versicherungstypen und Hausverwaltern vor der Brust. Und wirklich jeder von denen hat eine ziemlich exklusive Vorstellung davon, was jetzt von wem in welcher Reihenfolge und Geschwindigkeit und zu welchem Preis zu tun ist („Möglichst schnell, sonst wird der Schaden immer höher und dann, UND DANN! Uiuiui...“). Und jeder Einzelne von denen kann, klaro, erst ganz zum Schluss mit seiner Arbeit anfangen. Und zwar nur dann, wenn vorher sieben andere Typen die Gewerke A-F fachgerecht abgeliefert haben. Selbst wenn: Schwierig! Wegen Terminplan und Urlaub und Wetter und so.
Es nervt. So richtig.
Jetzt hab ich aber Glück im Unglück, isso, weil eine gewisse parallel stattfindende Problematik dem Wasserschaden eine neue Perspektive gibt. Einen Tag nach der ersten Liebkosung meiner Stirn durch einen von der Decke fallenden Wassertropfen rief nämlich mein Papa an und sagte, dass er seit heute Blutkrebs hat. Und das Krasse ist, dass er sich seitdem genau wie ich mit diesen ganzen unterschiedlichen Expertenexperten rumschlagen muss, die alle nur ihren Spezialistenspezialbereich im Kopf haben und es irgendwie nicht hinkriegen, den Kram selbständig zu koordinieren. Natürlich gibt es Unterschiede. Der größte ist wohl, dass im Gegensatz zum Wasserschaden die Versicherungstypen bei Krebs nicht groß wegen Kostenvoranschlägen rumnerven. Papa ist zwar privatversichert und hat die Versicherungsvögel wegen Nierentransplantation und Herzscheiße schon echt 'ne richtige Stange Geld gekostet. So richtig, richtig viel! Einfamilienhausrichtigviel. Aber bei akuter Leukämie kannst Du ja schlecht sagen „Pustekuchen, das zahlen wir Ihnen nicht, da hätten Sie erst mal Formblatt 13d wegen Kostenübernahmeantragsbestätigung ausfüllen müssen.“ Ich meine, man KÖNNTE das natürlich schon sagen, aber das ist eher dumm wegen Internet und so. Weil diese ganzen verkackten Verzweifelten so Formblattscans zusammen mit ihren Chemo-Glatzenfotos (Hashtag: #danke-fuer-nix-barmenia) vertwittern könnten und damit rumsdiebums in den Trending Tweets landen. Also sagt man in so einem Fall als Versicherung eher mal „Ja und Amen und alles Gute!“
Bei meinem Papa ist die Chemo sogar ziemlich billig. Weil er wegen seiner transplantierten Niere und der ganzen anderen Scheiße keine superteure echte Chemo kriegen kann, sondern nur die Waldorfschulvariante mit ohne Haarausfall und einer offiziellen Nutzenbewertung von „wahrscheinlich bisschen wirksamer als Gin Tonic“. Ich nenne sowas doppeltes Glück im Unglück (wegen nicht nervender Versicherung und Chemo light) und Papa ist es eigentlich egal, weil er derzeit mit so Kram wie Pastor-noch-mal-vorher-kennenlernen und Testament-updaten beschäftigt ist.
Apropos Chemo light: Die Behandlung meines Wasserschadens ist da deutlich weniger ich-tanze-meinen-Namen-mäßig. Im Wohnzimmer stehen zwei fette, gelbe Geräte aufeinander gestapelt, die mit einem Höllenlärm und zwar für mehrere Wochen um die Wette saugen und blasen. Wie viele Wochen es genau sein werden, kann mir auch der Trocknungsfirmamensch nicht sagen („Is ja immer unterschiedlich wegen unterschiedliche Wände und Himmelsrichtungen und Wetter und ob die Dachdecker das inzwischen geflickt haben, aber das hab ich ja gleich gesagt, dass die da ganz fix bei müssen…“). Und das ist wiederum ganz interessant, weil auch in Papas Fall die Zeitplanung, egal mit wem er spricht, immer eher vage bleibt. Der Nephrologe (Nierendoc) steht eh nur schulterzuckend daneben, weil sich gerade überhaupt niemand mehr um seine schöne Niere kümmert. Der Onkologe (Krebsdoc) ist von Berufswegen resigniert, weil er eh schon alles gesehen hat und überhaupt nix mehr verspricht. Der Hämatologe (Blutdoc) ist, glaub ich, ganz froh, dass er endlich mal keinen krebsigen Teenager behandeln muss, sondern einen Siebzigjährigen, der immerhin schon was vom Leben gehabt hat. Er sagt nur: „Wir müssen jetzt von Woche zu Woche denken." Und auch die Hausärztin denkt nur ein klitzekleines bisschen weiter, nämlich von Quartal zu Quartal. Inhaltlich kommt sie, seitdem das Stichwort AML im Arztbrief des Kollegen stand, eh nicht mehr mit…
Es ist zum Heulen, ganz im Ernst.
Ihr fragt natürlich völlig zurecht, wie ich fucking Arschloch dazu komme, meinen Pillepalle-Dachschaden mit dem Scheißtodesurteil-Krebs meines Papas zu vergleichen. Aber ich frag mal zurück: Was habt Ihr denn so für kluge Ideen? Einige von Euch haben so eine Scheiße garantiert schon erlebt und ihr wisst, dass es nicht so richtig coole Patentrezepte dafür gibt, mit dem Sterben des besten Menschen auf der Welt umzugehen. Und denen, die die Scheiße noch vor sich haben, sage ich völlig ironiefrei: Ganz viel Kraft und alles Gute. Und wenn ihr dann heulend neben zwei kreischenden Saugbläsern sitzt und alles um Euch herum gerade zusammenbricht, dann stellt Euch mein gebrülltes Flüstern vor: „I told you so."