Krähenpost
Montag, 17. August 2020

Die Sache mit dem Foto

Die Sache mit dem Foto vom Berg Reinebringen kann nur verstehen, wer das Desktop-Foto auf dem Dienstrechner meiner Frau kennt. Dort ist nämlich genau dieses Foto voreingestellt: Der Blick auf den Lofoten-Fischerort Reine vom nahegelegenen Berg aus. Ich lese keine Reiseführer, es kann aber gut sein, dass dieses Foto auf allen offiziellen Lofoten-Büchern vorne drauf ist. Keine Ahnung. Und ich nutze seit 20 Jahren kein Windows. Ich weiß also genauso wenig, ob dieses Foto bei den Standard-Windows-Desktopbildern herumliegt, oder ob der/die Behörden-Admin einfach Lofoten-Fan ist. Fakt ist jedenfalls, dass meine Frau seit Jahren täglich stundenlang auf dieses Foto starrt und es kann sein, dass mir dieses Foto die ganze Norwegen-Tour dieses Jahr eingebrockt hat... Wie auch immer: Sie hat es nie so richtig zugegeben, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit hat die Liebste diese ganze Reise nur eingefädelt, um genau diesen Blick, von Reinebringen hinunter auf das Dorf und die Bucht, selbst einmal live zu erleben und vielleicht sogar ihr Standard-Desktop-Foto durch ein selbst gemachtes zu ersetzen.

Jetzt waren wir also da. Auf den Lofoten. Ziemlich genau zweitausendvierhundert Auto-Kilometer weit weg von allen Dienstpflichten meiner Liebsten. Und doch nur anderthalb Autostunden entfernt von ihrem verdammten Desktop-Hintergrund. Und es war kalt, grau und regnerisch. In den Besserwisserhipsterreiseblogs steht, dass der Aufstieg zum Reinebringen eine anspruchsvolle Sache ist und dass man damit AUF JEDEN FALL einige Stunden nach einem Regenschauer warten sollte. Wegen Rutschgefahr etc. Gar nicht zu reden von der Enttäuschung, auf einem windigen Bergkamm 450 Meter über dem Meeresspiegel zu stehen und außer einen grauen Dorf, Nebel und Wolken wenig Fotowürdiges zu entdecken.

Wir verwarfen die Idee. Endgültig. Immerhin sind wir mit zwei nur mittelwanderwütigen, dafür aber umso zappeligeren Kindern unterwegs, und wir spürten einen kleinen Rest elterliches Verantwortungsgefühl in uns aufschreien. Außerdem nieselte es, als wir in Richtung Reine losfuhren. Stattdessen hatte meine Frau ein paar schöne Wanderungen und Strandspaziergänge herausgesucht, die auch bei schlechterem Wetter gut zu machen waren. Damit fing die Scheiße eigentlich erst richtig an. Denn wenn es eins auf den Lofoten nicht in Hülle und Fülle gibt, dann sind es Parkplätze an Aussichtspunkten und Wanderwegen. Insbesondere für Wohnmobile. Und an jedem einzelnen Wanderweg, an jedem Standort mit Ausblick waren genau an diesem Tag die Parkplätze inklusive aller halblegalen Ausweichmöglichkeiten heillos überfüllt. Ich fuhr, also konnte ich das Gesicht der Liebsten nicht genau studieren (die Straßen in und um Reine herum sind teilweise hanebüchene Zumutungen, ich hatte andere Prioritäten), aber ich spürte eine gewisse Anspannung. Auch in Reine selbst gab es genau gar keine Haltemöglichkeit und so fanden wir uns schließlich auf dem Fährhafen von Moskenes wieder, von wo aus man die Lofoten verlässt. Die nächste Fähre ging um 20:30 Uhr. In achteinhalb Stunden. Neben mir zerbrach etwas. „SO EINE VERDAMMTE SCHEIßE!“ Die Frau meines Lebens biss fast ins Handschuhfach. „ICH BIN DOCH NICHT TAUSENDE VON KILOMETERN GEFAHREN, UM AUF EINEM VERPISSTEN PARKPLATZ STUNDENLANG AUF DIE FÄHRE ZURÜCK ZU WARTEN!“ Damit, und das meine ich ganz ernst, war die Sache eigentlich entschieden. Denn nur zwei Kilometer und einen Tunnel vorher waren wir am Parkplatz Reinebringen vorbeigefahren. Er war der einzige, der noch halbleer war. Wahrscheinlich hatten die anderen Reisenden ähnliche Besserwisserhipsterreiseblogs gelesen. „Und was“, fing ich an, „wenn wir uns den Wanderweg einfach nur mal anschauen?“ „Genau“, sagte meine Frau. „Umkehren können wir ja jederzeit...“ „Was sagt ihr, Kinder?“ fragte ich nach hinten, bekam aber keine Antwort. Irgendein Minecraft-Problem meiner Tochter erforderte größte Aufmerksamkeit. Auf mehrere Nachfragen erntete ich schließlich ein „Whatever..“ des Ältesten.

Das Schild am Aufstieg war relativ unmissverständlich. „KEIN FAMILIENAUSFLUG!“ stand da in mehreren Sprachen. Da stand aber auch, dass die Wanderung nur eine Stunde dauert. Und die Treppenstufen der so genannten Scherpa-Treppe sahen sehr groß und stabil aus. „300 Stufen“, sagte meine Frau. „Insgesamt sind es 1000 (was nicht stimmte). Wenn wir nach knapp einem Drittel Bedenken oder keine Lust mehr haben, brechen wir ab. Versprochen.“ „Versprochen?“ „Ehrenwort.“ Genau. Wir gingen los. Wanderer kamen uns entgegen, einige überholten uns. Alle hatten sehr viel geeigneteres Schuhwerk (nicht nur Turnschuhe, so wir wir), teure Outdoor-Klamotten, Wanderstöcke und überraschend viele Hunde. Einer, der von oben kam, hielt uns ziemlich genau bei Stufe 300 an. „Mit diesen Schuhen?“ bedeutete er meiner Frau auf Englisch. „Geht nicht?“ fragte sie. „Es ist deine Entscheidung.“ „Wie ist denn die Aussicht?“ fragte sie. Er lächelte. „Absolutely amazing.“ Wir gingen weiter. Ich wusste, dass meine Frau hinter mir lächelte. Der Nieselregen hatte aufgehört und immer öfter kam die Sonne heraus. „Ähm“, meldete sich der Teenager-Sohn. „1000. Das hier war Stufe 1000.“ „Hast Du mitgezählt? „Hier stehen Nummern.“ „Im Reiseführer stand 1000“, sagte meine Frau. „Weiter“. Inzwischen schien die Sonne permanent. Bei Stufe 1300 verlangte meine Tochter augenrollend undv schwer atmend nach einer Pause. Bei Stufe 1500 sagte meine Frau „Scheiße.“ Die Stufen waren zu Ende. Stattdessen gab es nur noch einen steilen Hang mit losen Steinen, Schlamm und dazwischen Heidekraut und Grasbüscheln. „Was machen wir?“ fragte sie. „Das ist gefährlich. Zu gefährlich, wenn du mich fragst.“ „Stimmt“, sagte ich. „War‘s für die aber auch.“ Ich deutete auf den inzwischen sichtbaren Bergkamm, vielleicht 50 Meter über uns. Darauf saßen einige Leute. Man konnte ihr Lachen in der Ferne hören. „Na dann. Weiter“.

Das wirklich Krasse am Reinebringen ist, dass man erst ganz zum Schluss belohnt wird. Bis man den Kamm erreicht, sieht man nicht einmal die Bucht und das Dorf hinter dem Kamm. Es ist ein Unterschied von zwei Höhenmetern und Du siehst alles auf einmal. Die Bucht. Die Inseln dahinter. Das Dorf. Den Schatten des Berggipfels im vom gleißenden Sonnenschein beleuchteten Meer. Noch eindrucksvoller sind aber die Gesichter der Wanderer, wenn sie den Kamm erreichen. Sie beginnen zu strahlen, heller als die Sonne. Wir waren vielleicht zwanzig Leute. Alle machten die gleichen Fotos. Wir baten ein österreichischen Pärchen, ein Familienfoto von uns zu machen. Und ja, wenn man ganz ehrlich ist: Das Desktop-Foto meiner Frau ist bestimmt besser. Besser belichtet, weitwinkeliger, mit etwas mehr Sonne und etwas weniger Wolken. Aber unsere Fotos sind unsere ganz persönlichen Erinnerungsanker für einen letztlich ziemlich perfekten Tag auf den Lofoten.

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